Presseartikel
Rangieren ohne Lok
Wie ein großer Fremdkörper steht das Befehlsstellwerk 3 Chemnitz-Hilbersdorf neben den Gleisen der Bahnstrecke Dresden-Werdau. In brückenartiger Bauweise überspannte es einst den Ablaufberg eines der leistungsfähigsten Rangierbahnhöfe Deutschlands. Heute ist das Gelände weitestgehend beräumt. Zwei neu verlegte Gleise in überschaubarer Länge führen von einer Wellblechhütte auf der Dresdner Seite zu einem Prellbock in Richtung Stadt unter dem Stellwerk hindurch.
Seit Wochen müht sich ein kleiner Männertrupp mit der Fortbewegung von mehreren Güterwaggons auf dem etwa 250 Meter langen Gleisstück. Jochen Schubert gibt immer wieder dieselben Kommandos wie "Motor anlassen!", "Hemmschuh weg!" oder "Stopp!". Der Eisenbahner im Ruhestand hat eine Art Eisengabel fest im Griff und löst damit an einer bestimmten Stelle eine Kupplung, während ein Gehilfe schnell Hemmschuhe vor einen Waggon legt.
Beim nächsten Kommando kommt ein flacher grauer Schlitten unter dem ersten Waggon hervor und wird von einem Seil in Richtung Motorenhäuschen gezogen. Im richtigen Betrieb sorgt der Seilwagen dafür, dass die Waggons im Schritttempo den Ablaufberg hinunter rollen und entkuppelt werden können.
Am Samstag (5. Mai) will der Förderverein Eisenbahnfreunde "Richard Hartmann" erstmals die Funktionsweise der europaweit einzigartigen Seilablaufanlage des ehemaligen Rangierbahnhofs Chemnitz-Hilbersdorf öffentlich demonstrieren. Nach mehr als zweijähriger Aufbauzeit und mühevollem Ringen um Geld und Material steht die Anlage im Bereich des Stellwerks so weit, dass der Museumsbetrieb beginnen kann. Vorführungen sind von März bis Oktober jeweils am ersten Samstag im Monat geplant.
Schienen fanden die Vereinsmitglieder beispielsweise in Oelsnitz/Erzgebirge, eine Weiche durfte im Chemnitzer Fruchthof demontiert werden. Schwierig war die Anfertigung der speziellen Schwellen, da die Seilwagen innerhalb des Regelspur-Gleises ebenfalls auf Schienen laufen.
Die Anlage wurde 1930 in Betrieb genommen. "Insgesamt gab es nur zwei dieser Art in Sachsen. Die erste in Dresden-Friedrichstadt wurde 1945 zerstört", sagt Schubert. Die Zerlegung ankommender Güterzüge mittels Seilwagen anstelle von Rangierlokomotiven sei eine Innovation im Eisenbahnwesen gewesen und habe eine erhebliche Leistungssteigerung des Bahnhofs ermöglicht. Die Entwicklung geht auf den Eisenbahningenieur Edmund Frohne zurück. Der spätere Bundesbahn-Präsident sei auch am Umbau der Müglitztalbahn von Schmal- auf Normalspur beteiligt gewesen.
Die Seilablaufanlage war bis 1991 in Betrieb. Nach dem Aus für den Rangierbahnhof baute die Bahn in Hilbersdorf fast alles ab. Das Brückenstellwerk, ein paar Seilspanntürme, das Maschinenhaus der Seilanlage und natürlich das große Bahnbetriebswerk blieben als Flächendenkmal übrig. Das Bahnbetriebswerk beherbergt seit 1991 das Sächsische Eisenbahnmuseum.
Die Verbindung zum Original-Maschinenhaus etwa 750 Meter östlich fehlt leider - noch. Den enthusiastischen Eisenbahn-Veteranen ist es aber ernst damit, diese wieder herzustellen. Das Problem ist, dass Gleise, Elektrokabel und unterirdische Anlagen abgebaut wurden. Motoren und Seilscheiben sind immerhin noch vorhanden.
Für Besucher gibt es aber auch so schon spannende Einblicke. So können sie in den Räumen der "Brücke" die alte Stellwerkstechnik sehen, sich am Modell des Ablaufbergs die Seilanlage erklären lassen und anhand zahlreicher Fotos, Zeichnungen und anderer Dokumente mehr über das Bahnland Sachsen erfahren.
Quelle: http://www.t-online.de/regionales/id_56142590/rangieren-ohne-lok.html
(c) dapd Nachrichtenagentur